15.08.2020: Jungfernstieg – u. a. mit Michael Ballweg

Beinahe einem Volksfest ähnelnd, versammelte „Querdenken 40“ – Hamburger Ableger der Organsiation „Querdenken 711“ um Selina Fullert (1) und Anja Zarwel am 15. August ca. 800 Demonstant:innen in der Hamburger Innenstadt.

Das war die bisher größte verschwörungsideologische Kundgebung in Hamburg seit Beginn der Pandemie. Darunter fanden sich wie auch bei vorigen Kundgebungen Impfgegner:innen, Esoteriker:innen, Anhänger:innen von Verschwörungsmythen, Corona-Leugner:innen und Fans rechter Youtuber:innen zusammen.

Auffällig war die wieder erhöhte Präsenz von u.a. prominenten Vertreter:innen der (extrem) rechten Szene aus Hamburg (2), die zu Beginn der Anti-Corona-Kundgebungen im Mai ihren Höhepunkt erreicht zu haben schien.

Generell lässt sich festhalten, dass die Menge der Teilnehmenden seit der Großdemo in Berlin am 01.08. deutlich zugenommen hat, eine bundesweite Vernetzung nun auch für Hamburg relevanter wird, und auch Rosa von der Beek (3) wieder sowie Andrea Germanus (4) immer noch am Start sind. Nicht zuletzt wird auch der Event-Charakter der Kundgebung eine Rolle gespielt haben. Als Highlights waren unter anderem Auftritte von besonderen Gästen angekündigt:

 die zentralen Akteure von „Querdenken 711“ aus Stuttgart wie der QAnon-Anhänger und Organisator von „Querdenken 711“ Michael Ballweg sowie Mitbegründer der Partei Widerstand 2020 Bodo Schiffmann

  • der verschwörungsideologische und pressefeindliche Rapper SchwrzVice
  • Herausgeber der verschwörungsideologischen Zeitung „Demokratischer Widerstand“ Anselm Lenz
  • Arzt und Vertreter des Corona leugnenden Zusammenschlusses „Ärzte für Aufklärung“, welcher Atteste zur Befreiung von Maskenpflicht ohne Befund ausstellt, Heiko Schöning
  • Mitbegründer der Partei Widerstand 2020 und des Zusammenschlusses „Anwälte für Aufklärung“ Ralf Ludwig


Entsprechend waren auch einige Versammlungsteilnehmende aus anderen Städten nach Hamburg angereist. Zu sehen in der Menge waren neben Fanshirts von Heiko Schrang, Merchandise-Artikel, die auf die QAnon-Bewegung schließen ließen, russische Staatsflaggen und Deutschlandfahnen. Ein Mitglied der rechtsesoterischen und antisemitischen Gruppierung um die Rote Fahne (5) (Rote Fahne Jugend Hamburg) war auch wieder da und schwenkte die entsprechende Fahne.

Bereits im Vorfeld haben Antifaschist:innen zum Gegenprotest mobilisert. Über Social Media Kanäle erreichten die Mobilisierungen auch Verschwörungsideolog:innen, dessen Reaktion auf vermeintliche „Vertreibung“ Androhung von Waffengewalt beinhaltete: „9mm sind reichlich vorhanden“.

Drohungen bei Facebook nach einem antifaschistischem Aufruf zum Gegenprotest

Gegenüber dem in der Masse kaum hörbaren antifaschistischen Gegenprotests (ca. 30-40 Personen) verhielten sich die Teilnehmenden, gestärkt durch ihr Überlegenheitsempfinden, teils missionarisch, teils abwertend oder aggressiv bis übergriffig und filmten diesen offensiv ab. Ein Journalist wurde mit Faustschlägen angegriffen und verletzt.

So sehr die Organisator:innen versuchten die Demonstration harmlos wirken zu lassen, indem sie „Nazis raus“-Rufe anstimmten, wurden nicht nur Neofaschist:innen in der eigenen Demo toleriert, sondern auch antisemtische Denkmuster in den Redebeiträgen reproduziert. Auch Holocaust relativierende Inhalte schienen für Querdenker:innen kein Problem zu sein – so hing nahe der Bühne ein Bild, das Verhältnisse in den Konzentrationslagern während des Naziregimes mit den staatlichen Hygiene-Maßnahmen gegen die Covid19-Pandemie verglich. "Arbeit macht frei"-Slogan in Verbindung mit den Maßnahmen zur Covid19-Pandemie

 

Eine Person sticht besonders heraus, wenn es um das Aufrechterhalten des Image der Unangreifbarkeit und des vermeintlichen Sorgens um Grund- und Menschenrechte handelt.

So hielt Christoph „Ganesha“ Lauterbach (6) einen Redebeitrag (die Videoaufnahme davon ist über YouTube zu finden), in welchem er ausführlich auf die Betroffenheit von sexualisierter Gewalt bei Kindern eingeht. In der Tat befinden sich Betroffene häuslicher und sexualisierter Gewalt seit Beginn der Pandemie in einer noch schwierigeren Situation, insbesondere Kinder haben häufig nicht die Möglichkeit im Falle von Gewaltanwendung Hilfe aufzusuchen, wenn ihr soziales Netzwerk durch Maßnahmen wie social distancing eingeschränkt wird.

An dieser Stelle wird unsererseits nicht die Tatsache kritisiert, dass ein besserer gesellschaftlicher Umgang mit sexualisierter Gewalt gefunden werden muss. Es ist zweifellos richtig, verbunden mit der Einsicht, dass sexualisierte Gewalt strukturelle Ursachen hat, die bekämpft und überwunden werden müssen (was Ganesha in seiner Rede jedoch auslässt).

Der Redner nutzt jedoch diese gesellschaftlichen Misstände, um den Bogen zum Thema Maskenpflicht zu spannen. Auch hier ist es nachvollziehbar, dass durch eine traumatische Erinnerung an Gewalterlebnisse auch „nur“ ein Mundschutz triggern kann.

Problematisch wird es dann, wenn die gesamte Bewegung der Querdenker:innen diese Tatsache nutzt, um die schützende Funktion des Mundnasenschutzes bezogen auf Covid19 zu leugnen und zu delegimitieren oder sich im eigenen toxischen Egoismus zu suhlen, indem gesundheitlich oder sozial determenierte Risikogruppen und deren mögliche tödliche Gefährdung in Kauf genommen wird, weil die Maßnahmen ihre persönliche Freiheit gefährden würden. Dabei wird deutlich, dass der individuelle Freiheitsbegriff der Querdenker:innen die eigene Freiheit über die der Vielen stellt.

Seit ihrem Beginn wurde seitens „Querdenken 40“ eine Perspektive vertreten, die strukturelle gesellschaftliche Misstände, eingebunden in das kapitalistische System, weder ernst genommen noch kritisiert hat. Stattdessen ist die Bewegung in einem wirren Irrationalismus gefangen, der die Verantwortung für gesellschaftliches Leid ausschließlich „den bösen Geheimmächten“, der „(politischen) Elite“ oder den „Mainstream-Medien“ zuschreibt und durch  Komplexitätsreduktion, Emotionalisierung und Mystifizierung der sozialen Realität erst wirkungsstark agieren kann und ihre Motivation schöpft.

Ein solches Weltbild fördert Radikalisierungsprozesse. So sieht man auch im Fall von Ganesha, dass er bewusste Gewaltanwendung befürworten würde, wenn es nach seiner Meinung notwendig wäre. Er dokumentierte aber auch selbst, wie er einer Person Gewalt antat.

Ganesha erzählt von seiner Gewalt-Affinität in einem Facebook Beitrag

In diesem Sinne bleibt das friedliche Auftreten von „Querdenken 40“ lediglich eine Inszenierung zur Konstruktion der eigenen Unangreifbarkeit, die sich jedoch innerlich von Gewaltphantasien speist.


Deutschland erhebt sich?!

Die Kirsche auf dem Eis der nationalistischen Absurdität bot eine symbolische Aktion gegen Ende der Kundgebung. Artur Helios, welcher bundesweit auf Versammlungen von „Querdenken“ und „Corona-Rebellen“ als „der Mann mit dem Koffer“ auftritt, betrat die Bühne und ließ die gesamte Versammlung sich unter dem Motto „Wir knien nie wieder vor dieser Regierung!“, begleitet von Klängen der Nationalhymne, symbolisch erheben (wir verlinken das Video nicht, es ist über YouTube zu finden). Zynischerweise war dabei die Aufgabe von ausgerechnet zwei BIPOC-Personen ein Transparent mit dem vor schwarz-rot-goldenem Hintergrund stehenden Schriftzug „Deutschland erhebt sich“ zu halten.

Dies ist nicht nur ein Ausdruck rassistischer Praxis, bei der BIPOC-Personen von Weißen* als Beweis für ihre vermeintlich antirassistische Haltung hervorgebracht werden, sondern auch ein unkritisches Aufgreifen des ethnisch-nationalen Konzepts der deutschen Nation, welches die gesellschaftliche Grundlage für nationalistisches Denken, Ausgrenzung und schließlich rechten Terror bildet.

Der fast rituell wirkende Akt des Erhebens ließ den antifaschistischen Geist erschaudern, so sehr wurde die Grenze des Proto-Faschismus an dieser Stelle symbolisch bereits überschritten. Dass dies offenbar zum Selbstverständnis der vermeintlichen „Demokratiebewegung“  dazugehört, zeugt davon, dass die unter Coronaleugner:innen beliebte Parole „Wir sind das Volk!“ keinerlei emanzipatorische oder anti-autoritäre Züge trägt, ein Schulterschluss von Querdenker:innen mit organisierten Faschist:innen kein Zufall und wie oft behauptet keine Instrumentalisierung oder Unterwanderung von rechts darstellt, sondern ein gemeinsamer (potentiell) nationalistischer und faschistischer Konsens ist.


Pressefeindlichkeit und sogenannte alternative Medien

Hinter dem Deckmantel des Einstehens für Grundrechte und das Grundgesetz verstecken sich offen völkische und antidemokratische Positionen. Dies wird unter anderem an der Pressefeindlichkeit der Querdenker:innen deutlich. So wurde die Journalistin der Hamburger Morgenpost, die einen Artikel über Selina Fullert verfasst hat, in einer Rede öffentlich diffamiert, ohne dass sowohl inhaltlich auf die Kritik in ihrem Artikel eingegangen wurde als auch unerwähnt blieb, dass Fullert das Gesprächsangebot der MoPo erst vertagt, dann gänzlich unbeantwortet stehen ließ. Indirekt wurde gegenüber der Journalistin eine Drohung ausgesprochen. So würde es „für die junge Dame eng“ werden „wenn wir alle auf der richtigen Seite stehen“. Wie in einem weiteren Artikel der MoPo richtig angemerkt wird, dass solche Art der schrittweisen Grenzüberschreitung eine Strategie der sog. Neuen Rechten darstellt, findet sie in der Regel ihren Höhepunkt in rechtsterroristischen Angriffen auf Journalist:innen und Politiker:innen, die faschistische Inhalte und Tendenzen nicht unkommentiert stehen lassen.

„Von oben gesteuert“ sollen all diejenigen Vertreter:innen der Presselandschaft sein, die nicht ihre Meinung teilen. Eine ähnliche Strategie fahren Rechtspopulist:innen und Neofaschist:innen wie die AfD, die unliebsame Medienvertreter:innen von ihren Parteitagen ausschließen, weil sie etwas anderes berichten, als das was die AfDler:innen hören wollen (Lügenpresse!“). Stattdessen wird zunehmend auf sogenannte „alternative Medien“ verwiesen, die häufig entweder nicht dem journalistischen Standard entsprechen oder aufgrund politischer Vorwürfe, wie etwa des Antisemitismus, aus entsprechenden Pressehäusern ausgeschlossen werden (wie etwa bei Ken Jebsen / Ken FM).

So wurde die mediale Begleitung der Kundgebung unter anderem auch von rechten und rechtsoffenen Youtuber:innen gewährleistet, wie z.B. Juni Malsiner / Ehrenfrau TV (7) oder Aktivist Mann (8). Auch FeuerlöscherTV war wieder vor Ort – vor kurzem haben Hamburger Antifaschist:innen die sonst auch bei linken und antirassistischen Kundgebungen filmende Youtuberin Skrollan Alwert zur Stellungnahme aufgerufen, was jedoch ihrereseits unbeantwortet blieb. (9)

 

Fußnoten:

 

(2) Zahlreiche AfD-Funktionär:innen waren vor Ort:


Außerdem:
(3) Rosa von der Beek (Unsere-Grundrechte), hatte sich ursprünglich von der Gruppe um Selina Fullert distanziert, scheint nun aber wieder dabei zu sein und bestätigt damit ihren Koalitionswillen mit Rechten. Ergänzend dazu sei gesagt, dass sie am 12.06. mit dem Erdogan-Fan und Antisemiten Martin Lejeune für seinen Youtube-Kanal sprach.

(4) Andrea Germanus, Betreiberin von handgut-hamburg in der Schanzenstraße und ÖDP-Politikerin.

Neben einer fragwürdigen Haltung zur Holocaust-Leugnung (siehe Tweet) hält sie es anscheinend auch mit der Hufeisentheorie und ignoriert damit die Gewalt, welche per se von Diskriminierungsformen wie Rassismus ausgeht.


Foto: https://pixelarchiv.org/event/2020.08.15.hamburg/1/41.jpg


(
5) Mehr dazu unter:

(6) Christoph „Ganesha“ Lauterbach ist Körpertherapeut bei Körperarbeit Hamburg. Aufgrund seiner Selbstinszenierung in den Gruppenchats und auf sozialen Medien ist möglicherweise ein Missbrauchspotential gegenüber seiner Klient:innen zu befürchten. Außerdem leugnet Ganesha strukturellen Antisemitismus in der Gesellschaft

sowie strukturellen Rassismus bei der Polizei und erklärt den Mord an George Floyd und die dadurch ausgelösten weltweiten antirassistischen Proteste mit Verschwörungsmythen.

(8) Aktivist Mann ist sonst mit dem Holocaustleugner „Volkslehrer“ Nikolai Nerling unterwegs und provoziert bei linken Demos. Er interviewte u.a. Ex-NPD Kader und Reichsbürger Rüdiger Hoffmann von staatenlos. info

und sprach sich am 04.07.20 bei einer Rede in Berlin gegen die „Mischung von Menschenrassen“ aus. Am selben Tag unterstützte er die Attila Hildmann-Kundgebung mit einer Rede (siehe Tweet).

(
9) Dazu siehe Tweet

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