Rede vom 19.10.2020 (Langversion)

Unsere Kritik an der Hamburger Friedensmahnwache:

Seit 2014 bietet die sog. Hamburger Friedensmahnwache hier am Flaggenplatz des Jungfernstieges nach eigenen Aussagen jeder Person die Chance, sich frei am offenen Mikrofon zu äußern. Eine gewisse Kontinuität der Reden zeichnet sich jedoch bei einem genauen Blick auf die Verantwortlichen und ihr Umfeld ab. Reichsbürgertum, pauschale Impffeindschaft und eine krude Weltsicht sind dabei keine Seltenheit. Zusammengefasst: dieses Aufbegehren trägt zutiefst antidemokratische Züge. In Wirklichkeit ist ihre scheinbar anti-autoritäre Forderung nach „Macht dem Volke!“, die Frieden und Freiheit herstellen soll, eine Forderung nach exklusiver Macht, welche ohne den „lästigen Schutz“ der Minderheiten auskommen soll. Sie ist nicht zu verwechseln mit solidarischer Selbstbefreiung und demokratischer Autonomie. Diese Forderung muss verstanden werden als eine Forderung nach identitärer Formierung, die nationalistisch und ausschließend ist. Daraus Freiheitsversprechen zu formulieren ist reiner Populismus – diese Illusion ändert nichts an bestehenden Herrschaftsverhältnissen!

Seit März diesen Jahres ist es zu einer eindeutigen Verknüpfung zu den sog. Hygiene-Demos am Samstag gekommen. So sind nicht nur Teilnehmende in Teilen identisch, es sind auch auch einige davon in der Organisationsstruktur eingebunden. Eigentlich ist deren vermeintliche Eintreten für Demokratie und Grundrechte, sowie Aufhebung der Maßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus ein Wunsch nach einer Diktatur. Es ist ein Wunsch nach Macht, die ihren Feindbildprojektionen konsequent Geltung verschaffen und sie aus dem Weg räumen kann. Auch müssen solche Mobilisierungen als ein libertärer Affekt der kapitalistischen Gesellschaft verstanden werden. Ein Wunsch nach Aufhebung aller staatlicher Regulierungen unter Beibehaltung von Staat und Kapitalismus würde die Marktlogik in den ohnehin schon von sozialem Abbau betroffenen Lebensbereichen endgültig durchsetzen. In letzter Konsequenz wäre dies eine totale Entscheidung zwischen Interessen der Menschen- und Zwang zum Profit zugunsten des Profits. Der fragwürdige Freiheitsbegriff der zumeist aus dem bürgerlichen Spektrum stammenden Rebellen speist sich aus der neoliberalen Vorstellung einer Selbstbestimmung im Kapitalismus, die es niemals geben kann! Erst recht während einer Pandemie bedeutet ihre Freiheit eine tödliche Unfreiheit derer, die dem freien Markt ausgeliefert wären. Ob Marktautorität oder autoritärer Staat, die „Mahnwachen für Frieden“ zeigen in keiner Weise eine anti-autoritäre Tendenz.

Anstelle von notwendiger solidarischer Kritik der existenten permanenten Krise führt deren Zusammenkommen zu einer Kritik, welche dessen Ursachen verkennt und die Schuld den „bösen Mächten“ wie den USA, Merkel oder Bill Gates zuschreibt. Zugleich wird es versucht die abstrakten Widersprüche und eigene Ohnmacht in Einheit aufzulösen, welcher Feindbildkonstruktionen gegenüber gestellt werden. So bieten Bezüge auf Kollektive wie Volk oder Nation eine Möglichkeit, die empfundene Handlungsunfähigkeit in einer entfremdeten kapitalistischen Gesellschaft durch ein Wir-Gefühl aufzuheben. Da es jedoch keine echte Selbstermächtigung bedeuten kann, führt eine solche Praxis zu Frustration und anschließender Radikalisierung. Verschwörungserzählungen dienen als eine theoretische Begleitung dafür, denn sie bauen auf irrationalen Welterklärungen auf, die ihre eigenen Ressentiments begleiten und befriedigen. Gleichzeitig werden sie als Handlungsaufforderung verstanden und enden in gewaltförmigen Ausbrüchen, meistens gegenüber Minderheiten.

Dabei kommen Verschwörungserzählungen nie ohne Antisemitismus aus. Diese tragen sowohl historisch als auch strukturell antisemitische Züge. Auch wenn sie sich nicht direkt auf jüdische Menschen beziehen, knüpfen sie an Denkweisen an, die antisemitisch sind. Fast alle Verschwörungsideologien, die es gegeben hat, beziehen sich auf Jüd*innen und haben eine ähnliche Strukturlogik wie der Antisemitismus. Dabei werden die Ursachen gesellschaftlicher Probleme in Gestalt von Jüd*innen verkörpert. Weil sie aufgrund ihrer Existenz dafür verantwortlich gemacht werden, können diese Probleme nur aufgehoben werden, wenn es Jüd*innen nicht mehr gibt. Deshalb ist Antisemitismus in letzter Konsequenz immer vernichtend und Verschwörungserzählungen so gefährlich. Dass der von den Mahnwachenteilnehmer*innen tradierte Diskurs sich nahtlos an die ohnehin weit verbreiteten antisemitischen Weltbilder in der Gesellschaft anknüpfen kann, zeigen beispielhaft die Anschläge auf jüdische Menschen vor einem Jahr in Halle und vor 2 Wochen in Hamburg.

 

Keine Toleranz für die, die Intoleranz tolerieren

Beim deutsch-amerikanischen Philosophen und Soziologen Herbert Marcuse war der Begriff von „repressiver Toleranz“ von großer Bedeutung. Nach Marcuse kann durch die Diskussion von Individuen und Mitgliedern politischer und anderer Organisationen die Politik einer zukünftigen demokratischen Gesellschaft bestimmt werden. Diese Idee der Freiheit schließt für Marcuse jedoch eine uneingeschränkte Toleranz gegenüber rückschrittlichen Bewegungen aus. Die Toleranz gegenüber antidemokratischen Positionen würde sowohl den offenen Diskurs als auch die Zukunft einer demokratischen Gesellschaft untergraben.

Es ist also weder ein Diskurs mit ihnen möglich, noch kann ihre Meinung zur Diskussion stehen. Genauso wenig wie rassistische und antisemitische Ressentiments, die häufig unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit offen verbreitet und dadurch salonfähig gemacht werden. Häufig wird ihrerseits eine legitime Stellung im öffentlichen Diskurs vorgetäuscht, indem die Hufeisen-Theorie von zwei sich gegenüber stehenden Extremen nach dem Rechts-Links-Schema bedient wird. Dies leistet einer vermeintlichen Mitte Vorschub, um an vorhandene politische Identitäten anzuknüpfen und Toleranz für sich zu erstreiten. Als Antifaschist*innen müssen wir diese Gefahr erkennen und verhindern, dass solche Positionen mehr gesellschaftliche Macht erlangen. Das bedeutet auch, dass auf rechtsoffene und rechte Medien als Plattform für solche Positionen immer wieder hingewiesen werden soll, diese bei linken Veranstaltungen nicht toleriert und auch öffentlich diskreditiert werden. Beispielhaft seien Russia Today, Ehrenfrau TV, AfD- Politiker Stefan Bauer und Grosse Freiheit TV mit ihren YouTube-Kanälen genannt.

Um einen solchen Umgang mit ihren Positionen zu delegitimieren, versuchen die vermeintlichen Freiheitskämpfer*innen den Begriff des Faschismus umzukehren. Diejenigen, die versuchen faschistoide Tendenzen zu unterbinden, sollen faschistisch sein, während sie sich selbst als Opfer und Unterdrückte inszenieren. Auch in der Umdeutung und Aneignung der Bezeichnung „Antifaschist*in“ ihrerseits steckt eine große Gefahr.

Auf den ersten Blick drücken ihre plakativen Parolen und Forderungen universalistische Werte aus, doch zeichnen sie sich durch Unbestimmtheit und Unschärfe aus: für Frieden, für Freiheit gegen Autoritarismus und Faschismus sind viele. Doch gleichzeitig verfügen sie über keine Begriffe der Kritik und Emanzipation. Ursachen gesellschaftlicher Konflikte und Herrschaftsverhältnisse werden außer Acht gelassen oder mystifiziert. Das führt zu einer großen Offenheit für (neu-) rechte Agitation. Der politische Zweck ihrer Mobilisierungen verkommt dabei zum Selbstzweck, während er gleichzeitig regressive Tendenzen in dieser Gesellschaft verstärkt. Dabei bleiben sie in der Regel selbstbezüglich und bestätigen sich dadurch gegenseitig. In ihrer Selbstbezüglichkeit bleiben ihre Positionen auch unwiderlegbar. Denn auf die Positionen derer, die ihre Argumentation nicht übernehmen, reagieren sie äußerst abwertend und diffamierend sowie mit aggressiver Presse- und Wissenschaftsfeindlichkeit. Kommt doch bekannt vor? Genau! Wir erinnern an Pediga, Chemnitz, „Merkel Muss Weg“- und „Michel wach auf“-Kundgebungen bis hin zu NPD-Aufmärschen, um nur einige aus den letzten Jahren zu nennen.

Für eine solidarische Gesellschaft

Als Teil einer emanzipatorischen Linken denken wir, dass es allein nicht reicht, sich mit rückschrittlichen politischen Positionen zu befassen. Es gilt eine progressive und solidarische Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse zu entwickeln und diese in die Öffentlichkeit zu tragen. Denn das, was in der Corona-Krise als problematisch wahrgenommen wurde, ist in der Struktur und im Normalzustand dieser Gesellschaft angelegt. Dabei wollen wir explizit die Form von vermeintlicher Solidarität kritisieren, die sich vielfach in staatlicher Rhetorik während der Covid19-Pandemie wiederfindet. Die vermeintliche nationale Solidarität, auf die sich dabei bezogen wird, bleibt eine Illusion, die echte Herrschaftsverhältnisse verschleiert.

Wir müssen aufzeigen, dass Gesundheit und Verwertungszwang grundsätzlich im Widerspruch zueinander stehen. Denn das Gesundheitssystem im Kapitalismus ist kein Selbstzweck an sich und dient hauptsächlich dazu Menschen wieder fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Das Gesundheitssystem war deshalb nicht auf eine Pandemie vorbereitet. Erst durch eine solche Zielorientierung konnten Kosten in dem Umfang minimiert und Profite maximiert werden, was schließlich zu einer Unterfinanzierung und Privatisierung der Krankenhäuser geführt hat.

Des weiteren verlangt der Kapitalismus nach einem stetigen Wachstum des abstrakten Reichtums: Deshalb waren einerseits vor allem Frauen doppelter Belastung durch unbezahlte Care-Arbeit ausgesetzt – denn sie arbeiten überdurchschnittlich oft in sog. „systemrelevanten“ Berufen, und sie sind es meist, die sich um Hausarbeit und Kinder kümmern. Andererseits mussten Arbeiter*innen auch in nicht notwendigen Bereichen weiter arbeiten und waren unnötigen Ansteckungsrisiken ausgesetzt. In Deutschland fanden die größten Corona-Paryts in Großraumbüros, Amazon-Centern und in den Betrieben statt, in denen vor allem nicht-deutsche Staatsbürger*innen arbeiten wie etwa Spargelfelder und Fleischindustrie. Denn wenn die Produktion eingeschränkt wird, bedeutet dies direkt eine Krise. Liberale Stimmen aus Politik und Wirtschaft forderten deshalb, den Lockdown möglichst schnell zu beenden. Es war ihnen lieber, dass Menschen sterben, als dass die Wirtschaft schaden nimmt. Mit der 2. Welle könnte eine ähnliche Situation bevorstehen.

Auch ist es den Forderungen nach Auflösung der Geflüchtetenunterkünfte und Schaffung von dezentraler Unterbringung für Geflüchtete und Wohnungslose nicht nachgegangen worden, es gab gar einen Aufnahmestopp trotz der verheerenden Situation an der türkisch-griechischen Grenze: Wenn Menschen keine Wohnung haben, können sie schlecht dem Aufruf #stayathome folgen. Auch Geflüchtete in Massenunterkünften blieben unnötigen Infektionsrisiken ausgesetzt. Dass gleichzeitig Wohnungen und Hotelzimmer leerstehen, zeigt nicht nur in Zeiten von Corona die tödlichen Folgen von Kapitalismus. Kollektive Aktionen wie #besetzen in Berlin zeigen jedoch, dass es auch anders geht: dort wurden in März von Kleingruppen Wohnungen besetzt, um sie Wohnungslosen zur Verfügung zu stellen.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten: die Chance nach einer Veränderung muss man selbst hervorbringen – mit einer Selbstorganisation von unten als Gegenmacht zum Kapitalismus und Staat. Die aktuelle Situation bedeutet für uns also: solidarische Strukturen aufbauen und stärken.

Für eine solidarische Gesellschaft und demokratische Autonomie!


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